14. Kennenlerntreffen
Lebensweg – Trauerweg
Impressionen von Gabi Becker
23.11.2001 11:30 – Mein erstes Posting auf der Pinnwand von leben-ohne-dich, knapp ein Jahr, nachdem mein Thomas sich einfach so – ohne Vorwarnung – aus unserem gemeinsamen Leben schlich:
„…Tatsache ist: das Leben geht weiter, ob wir wollen oder nicht, unbarmherzig und konsequent, mit all seinem Schönen und Schlimmen, mit Banalem und Wesentlichem – teilweise läuft es neben uns vorbei, ohne uns auch nur irgendwie zu berühren, ab und zu fängt es uns ein und zieht uns ein Stückchen mit! Ohne uns zu fragen! Gott sei Dank!!! …“
Damit begann mein Lebensweg mitohne meinem toten Buben und mit leben-ohne-dich!
Trauer teilen zum Frühstück mit LoD, Ängste und Sorgen austauschen am Vormittag mit LoD, die eigenen Gefühle und Gedanken wiedererkennen in Postings von LoD… LoD – ein überlebensnotwendiger beständiger Begleiter in meinem unbeständigen Leben!
Leben-ohne-Dich – bis zum 10. Oktober 2008 ein Klick in eine virtuelle Welt, die seit langer Zeit meine Oase in meiner realen Welt war – prall gefüllt mit Schicksalen, realen Schicksalen – realen Eltern mit realen toten Kindern!
Am 10. Oktober sollte diesem Klick Leben eingehaucht werden – ich war nervös…
25 Mütter und Väter von 18 Kindern, 18 toten Kindern, machten sich auf den Weg, auf den „Lebensweg“ wie das Motto dieses Kennenlerntreffens war – nach Attendorn!
Eine unbeschreibliche, tief berührende Vertrautheit hüllt uns ein, Umarmungen, wärmende Hände; Namen bekommen Gesichter – es fühlt sich gut an… ich bin angekommen! Geborgenheit, Erleichterung…
Der Blick gerichtet in die Mitte des Raumes – „LEBEN OHNE DICH Kennenlerntreffen“ steht auf der Kerze, die als Mitte für die Strahlen der Sonne dient! Jedes tote Kind ist ein Strahl dieser – unserer – Sonne; jedes Kind hat ein Bild, für jedes dieser Kinder brennt eine Kerze. Und plötzlich wird mir diese Wucht, dieses Ausmaß des Grauens, diese Lebenskatastrophe sehr bewusst – leben ohne dich!!!!! Allen hier wurde dieser Satz auf die Stirn gemeißelt: „Leben ohne Dich!!!!“
Unermessliche Traurigkeit breitet sich in mir aus und – abgrundtiefes Mitgefühl… der Raum ist gefüllt mit Tränen – geweinten und ungeweinten, mit Traurigkeit, Sehnsucht, Mitgefühl, Verzweiflung und – grenzenloser Liebe…
Wie heilsam, ein Stückchen dieses Lebensweges gemeinsam zu gehen! Zumindest für die Zeit des Kennenlerntreffens drücken die Schuhe nur ein bisschen, die Marschverpflegung ist reichlich und nahrhaft, das Quellwasser kühl. Gut gesichert klettern wir über Felswände, durchqueren steiniges Gelände, bei Erschöpfung ruhen wir gemeinsam und laben uns, selbst in der Dunkelheit haben wir keine Angst vor Schlaglöchern und Verirrungen – wir sind nicht alleine!
„Der Weg ist das Ziel“ wie bewusst wird uns diese Aussage in diesen drei Tagen – unser Lebensweg, den niemand kennt, den niemand je gegangen ist, weil er so einmalig ist wie wir einmalig sind! Unsere Bestimmung ist es, diesen Weg zu gehen, auf unsere ganz besondere, einmalige Art!
Wie heilsam dieser geschützte Raum ist, wird mir bewusst, als ich meine Tränen spüre! Tränen – meine Schwäche! – So viele ungeweinte, tief sitzende Tränen, die nicht geweint werden wollen – wie befreiend dieses Zerfließen – dieses „Ausatmenkönnen“ seines Unglücks…
Sein Unglück ausatmen können
Tief ausatmen
Sodass man wieder
Einatmen kann
Und vielleicht auch sein Unglück
Sagen können
In Worten
In wirklichen Worten
Die zusammenhängen
Und Sinn haben
Und die man selbst noch
Verstehen kann
Und vielleicht sogar
Irgendwer sonst versteht
Oder verstehen könnte
Und weinen können
Das wäre schon
Fast wieder
Glück
(Erich Fried)
„Das wäre schon fast wieder Glück“ – wie sehr sich doch die Begriffe von Glück, Unglück, Traurigkeit, Mut, Hoffnung, Vergangenheit, Zukunft, Freundschaft,.. und Lebensweg für uns trauernde Eltern verschoben, gewandelt haben!
Roland Kachler, unser „Überraschungsgeschenk“ von Tina und Bodo – einer von uns! „Diese Kerze zünde ich für meinen toten Sohn Simon an!“ Ich muss weinen, als ich die Dankbarkeit und Rührung von Herrn Kachler für diese einfache Geste einer bereitgestellten Kerze für seinen Buben spüre. Mir kommt der Gedanke, wie einfach es doch für unsere Mitmenschen wäre…
Rituale, um unser Kind im eigenen Körper zu spüren – wie schmerzhaft und wie unglaublich wohltuend – wie nahe ist mir Thomas in diesen Momenten, welch großes Lebensgeschenk!
Wir schicken unsere schweren Gedanken und Sehnsüchte mit bunten Luftballons zu unseren Kindern – eigenartig, dass diese mit soviel Seelenballast so hoch fliegen können und unbeeindruckt und selbstverständlich aus unserem Blickfeld entschwinden – und die Erde dreht sich unbeirrbar weiter und weiter im ewigen Kreislauf des Lebens…
Abschiednehmen mit der „Hymne der Traurigkeit“ – „Bridge Over Troubled Water“:
„Wenn du erschöpft bist,
lass dich fallen,…
ich bin an deiner Seite“
ICH: die Gemeinschaft von leben-ohne-dich!
Sonntag, 12. Oktober 2008, der achte Todestag meines Sohnes Thomas – mein Lebensweg führt wieder nach Hause zu meiner Familie!
Gut eingepackt in meinem Rucksack befinden sich viele Dinge: Gefühle wie Wehmut, Dankbarkeit, Traurigkeit, Glück, Zuversicht, Erleichterung, Hoffnung; Give-Aways wie neuealte wertvolle Lebensfreundschaften, unvergessliche Impressionen, Umarmungen, gute Wünsche, geteiltes Leid; ein Sonnenstrahl stellvertretend für alle unsere Kinder, ein Kerzerl für dunkle Zeiten und zwei Kieselsteine – als Symbol für das Leben – für unseres und das unserer Kinder – ungeschliffen und einzigartig…
Stehend: Gitti (Steffen), Christiane (Tobias), Rudolf (Steffen), Susanne & Klaus (Kevin), Brigitte & Paul (Dirk), Anne (Nadine), Kerstin (Melissa), Christel (Birthe), Conny (Johannes), Ursel (Michael Ulli), Friedhelm (Johanne), Gabi (Thomas)
Davor knieend: Clemens (Tobias), Josette (Nicole), Karin (Karsten), Anke (Thorsten), Ernst (Nicole), Birgit (Stanjo), Tina (Yannis), Denise (Kevin), Michael (Michael Ulli)
Liebe Gabi, was für ein beeindruckender und persönlicher Bericht, danke dafür ! Tina, Ute & Bodo
Alle Bilder © Copyright „Leben ohne Dich“