GEO 12/2003

Trauer: Abschied und Neubeginn

Von Hanne Tügel (TEXT) und Roman Bezjak (FOTOS)

Geister scheren sich nicht um den Schlaf der Lebenden, beharren auf dem Recht, sie jederzeit heimzusuchen, gern in den schwärzesten Stunden vor Tau und Tag. Auch ein Jahr danach fürchtet Evelyn Eichhorn die Nächte, in denen „so viel Schmerz, so viel Verzweiflung in mir ist, dass Weinen nicht reicht; da muss ich schreien. Natürlich so, dass ich die Nachbarn nicht aufwecke; ich drück‘ mir ein Kissen auf den Mund“.

Trauernde sind höflich.

Warumsie?Warumkonnteichihrnichthelfen?Warumisterdortentlanggefahren? In den besseren der schlechten Nächte schafft es Evelyn Eichhorn aufzustehen. Macht sich eine Tasse Kakao. Setzt sich ins Wohnzimmer neben den Tisch mit den frischen Rosensträußen, auf dem all die Kondolenzkarten drapiert sind. Raucht. Schaut zum zighundertsten Mal den Videoclip an, den Constanze in Venedig gedreht hat: Die Haare wehen; ihre Tochter schwebt durch die Stadt in Schwarz-Weiß als Traumwandlerin zur Musik der Hip-Hop-Band „Fettes Brot“. Ihre wunderschöne Tochter. 22 ist sie geworden, hatte eine Karriere als Fotomodell vor sich. Zweite von 195000 Mitbewerbern bei „Gesicht 1997“. Danach Werbeauftritte; Laufstege in Mailand, Barcelona, Sydney.

In Constanzes Zimmer liegen der Teddy aus Kindertagen auf dem Bett, ihr Jogging-Anzug auf dem Stuhl und die Mappe mit den Unterlagen zum Prozess gegen den Todesfahrer auf dem Schreibtisch. Darin Skizzen vom Unfallort, Fotos aus der Pathologie. Obenauf steckt das Porträt einer versonnen lächelnden Constanze in der Sichthülle; aber unweigerlich schiebt sich bei ihrer Mutter jenes Bild darüber, das sich in jener anderen Nacht im Juni 2002 „eingebrannt und eingemeißelt“ hat: Die Tochter auf dem Asphalt einer Landstraße in der Toskana, „wie eine kaputte Puppe, die man hingeschmissen hat“. Ende eines Abendspaziergangs bei Glühwürmchen und Mondschein mit dem australischen Freund. Zwei Tage später hatten sie alle in Italien Evelyn Eichhorns Fünfzigsten feiern wollen.

Wo findet eine Mutter Trost, die ihre einzige Tochter, wie es so plastisch heißt, „verloren“ hat? In der Einsicht, dass der Mensch eben sterblich ist? Im Gedanken an die Auferstehung Christi? Im Glauben, es gefalle Gott, Alfa-Romeo-Raser als Killer auszuschicken? Evelyn Eichhorn schaltet den PC ein und klickt sich im Forum www.leben-ohne-dich.de durch zu Einträgen anderer Schlafloser, verfasst um 2:12 Uhr oder um 3:29 Uhr. „Du weißt, es gibt eine Welt mit Menschen, denen es genauso geht wie dir“, sagt sie. „Du liest deine eigenen Gefühle. Und immer wieder: die Ignoranz der Familien, der Umwelt.“

Das Leben muss weitergehen, sagen die anderen. So wie sie es vielleicht selbst gesagt hätte. Vorher.

Der Tod tritt in der modernen Gesellschaft in einer seltsamen Doppelrolle auf. Einerseits als irritierender Dauergast. Eine obszöne Prozession zweidimensionaler Leichen drängt sich ungefragt ins Leben: Attentats-, Kriegs-, Flut-, Dürre- und Erdbebenopfer, Drogen- und Aidstote, zerfetzte, verbrannte, zerstückelte Körper in jeder Nachrichtensendung, in jeder Tageszeitung. Als Zugabe folgt die Parade nur auf Zeit erschossener, erdrosselter, vergifteter Spielfilm- und Serienhelden.

Aus dem wirklichen, dreidimensionalen, gefühlten Leben hat sich der Tod dagegen zurückgezogen. Der Anblick eines realen Leichnams ist aus guten Gründen seltener geworden. Weil die Kindersterblichkeit gesunken und die Lebenserwartung gestiegen ist. Weil in Deutschland, in der Schweiz, in Österreich Frieden herrscht und keine Bomben fallen.

Zudem ist der Tod in professionelle Obhut ausgelagert; als „Exitus“ findet er immer häufiger im Krankenhaus oder im Altersheim statt, verbunden mit diskreter Entfernung des Leichnams nach DIN 77300 („Bestattungsdienstleistungen“). Ein kurzes Adieu im allerengsten Familienkreis – dann gibt Personal im weißen Kittel den Sterbefall ab an Personal im schwarzen Anzug, mit der höflichen Mahnung, „bitte nicht den Vordereingang“ zu benutzen. Der Leichenwagen draußen ist nicht als solcher erkennbar; er ähnelt einem beliebigen Transporter.

Der Schock setzt später ein. Niewiedergemeinsamlachenessenstreitenspazierengehen. Nur manchmal tritt der Tod als Erlöser auf, viel zu oft als Hoffnungszertrümmerer und Sinnzerstörer. Nein, nicht alle 828541 aus der deutschen Jahresstatistik 2001 sind „sanft entschlafen“ und konnten auf ein „erfülltes Leben“ zurückblicken. Das Schicksal hält für Menschen wie Evelyn Eichhorn ein unermessliches Repertoire an plötzlichen Verlusten und hässlichen Todesursachen bereit: 6044-mal Totgeburten oder Säuglingstod im ersten Lebensjahr, 6977 Verkehrs-, 1835 Drogen-, 925 Mord- und Totschlags-Opfer, 11156 Selbstmorde. 65228 Herzinfarkte, 40671 Schlaganfälle. 207619 Menschen, denen Krebs den Körper zerstört hat.

Wenn sich Angehörige in Hinterbliebene verwandeln, erleben sie, dass der Gesellschaft etwas entglitten ist. „Die traditionellen Rituale der Trauer und der individuellen und kollektiven Vorbereitung auf den Tod haben keinen Ort mehr in einem Leben, das von am Diesseits orientierten Werten dominiert wird“, beschreibt die Kulturanthropologin Johanna Rolshoven das Vakuum.

Trauer sei Privatsache geworden – mit problematischen Nebenwirkungen. Johanna Rolshoven nennt Gefühle des Gelähmtseins, der Einsamkeit und vor allem: „Verhaltensunsicherheiten“.

Kein noch so gutes Buch über Nahtod-Erfahrungen, keine Lektüre von Todesanzeigen, keine Körperwelten-Ausstellung mit ästhetisch plastinierten Leichen kann vorbereiten auf jenen Moment, in dem ein nahestehender lebendiger Mensch zur „sterblichen Hülle“ wird. Auf die Kollision mit der Vergänglichkeit. Auf die Erfahrung der Endgültigkeit, die in einer Gesellschaft besonders schmerzlich wirkt, in der so vieles ersetzbar und käuflich ist. In der Jugendkult und Seniorengymnastik und High-Tech-Medizin die gefährliche Illusion des „es geht immer weiter“ schüren. Mit dem Tod eines Nächsten stellt sich – plötzlich und unerwartet – auch die Sinnfrage für das eigene Dasein.

Die Kulturen und Religionen der Welt haben Rituale entwickelt, mit dieser existenziellen Krise umzugehen. Seit Menschengedenken wird der Abschied von den Toten von unterschiedlichen Zeremonien begleitet (siehe Seite 188). Anthropologen und Psychologen kennen die heilsame Kraft, die sich dabei entfaltet. Handlungen zu wiederholen, die schon die Ahnen der Ahnen vollzogen haben, bietet Halt und bettet den Einzelnen in die Gemeinschaft ein.

Bis zum Anfang des vorigen Jahrhunderts war der Tod auch im Abendland ein ritualisiertes und öffentliches Ereignis. „Man schloss die Vorhänge im Zimmer des Sterbenden, zündete Kerzen an, sprengte Weihwasser aus; das Haus füllte sich mit Nachbarn, Angehörigen und Freunden… Die Totenglocke erklang in der Kirche“, schreibt der französische Historiker Philippe Ariès in seiner „Geschichte des Todes“*.

Die Traueranzeige an der Haustür, das Totenamt, die „von Passanten ehrerbietig gegrüßte“ Prozession der schwarz Gekleideten zum Friedhof, all das zeugte von kollektiver Klage: „Nicht nur ein Einzelner war dahingegangen, sondern die Gemeinschaft als Ganze war getroffen und musste nun ihre Wunde heilen.“

Drei Generationen später sind nur noch Relikte der öffentlich und gemeinschaftlich ausgelebten Trauer übrig. Jahrelang schwarz tragen? Kaum bekannten Nachbarn Kondolenzbesuche abstatten? Solche Verpflichtungen passen schlecht zum städtisch geprägten Alltag. Selbst die Übereinkunft, dass ein gepachteter Quader Friedhofserde samt Kreuz oder Grabstein den Fixpunkt der Trauer darstellt, gilt längst nicht mehr überall.

Der Traditionsbruch ist in ostdeutschen Großstädten am deutlichsten: In München werden nach einer Untersuchung der Jenaer Kulturwissenschaftlerin Barbara Happe nur fünf Prozent der Toten anonym bestattet – in Chemnitz dagegen finden 70 Prozent der Toten die letzte Ruhe dicht an dicht in „Gemeinschaftsanlagen“. In Leipzig und Erfurt sind es 50 Prozent, in Hamburg immerhin 25 Prozent. Oft gibt es keinen Hinweis auf Namen und Lebensdaten; manchmal erinnern gemeinsame Gedenktafeln an die Toten.

Die Kirchen, jahrhundertelang Alleinbevollmächtigte für den Übergang ins Jenseits, haben dieses Monopol verloren. Die Passion Christi taugt schlecht als Modell für eigene Tragödien. „Im Umgang mit Tod und Trauer wird die Auflösung christlicher Traditionen besonders deutlich“, stellt der Sozialhistoriker Norbert Fischer fest, der über Friedhofshistorie promoviert hat.

Trauergottesdienste auf Zentralfriedhöfen, deren Pfarrer die Verstorbenen nicht kennen, lassen spirituelle Bedürfnisse unerfüllt. Der Arbeitstakt in Friedhofskapellen ist von Tempo und Routine diktiert. „Liturgische Elemente“ erweisen sich laut Fischer mehr und mehr „als Versatzstücke, die in bürokratisierte und technisierte Abläufe eingebaut werden.“

Die Klage der Kirchen über den „Verfall der Trauerkultur“ teilt der Historiker nicht. Seine Hoffnung ist ein neuer, zeitgemäßer Umgang mit dem Tod, geprägt von „Selbstbestimmung, Anteilnahme und Kreativität“.

Friedhof Hamburg-Ohlsdorf.
Ein Trauerzug von 200 Menschen mit bunten Luftballons zieht zum Gemeinschaftsgrab der Initiative „Memento“, an der Spitze der Hamburger „Aids-Seelsorger“ Rainer Jarchow. Die Träger lassen den weißen Sarg mit den Sonnenblumen in die Gruft hinab. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub. Eine letzte Rose fliegt dem Toten hinterher. Es folgt das Luftballon-Ritual, das seinen Ursprung der Aids-Bewegung in den USA verdankt: gemeinsames Loslassen. Ein symbolträchtiger Akt. 200 Ballons schweben in die Höhe; die Gemeinde richtet den Blick von der Grube in den Himmel über Hamburg, von der Erdenschwere hin zur Leichtigkeit des Nicht-mehr-Seins.

Reinhardswald bei Kassel. Blätter rascheln, Äste wiegen sich, Spechte pochen – als lange letzte Ehre für die Toten. Seit November 2001 sind 116 Hektar des riesigen Forsts zum ersten deutschen „Friedwald“ erkoren. Das Konzept, einen Baum auszuwählen und auf 99 Jahre zu pachten, stammt aus der Schweiz. Nur eine unscheinbare Plakette am Stamm der Eichen, der Buchen und Lärchen weist auf die Toten hin, die hier in den Kreislauf der Natur zurückkehren. Ihre Asche düngt die Wurzeln.

Kammerhorster Steingarten in Puls bei Itzehoe. Josephine Peters-Bustorff steht mit einem jungen Elternpaar vor einem Granitfindling aus der Feldmark; Pinsel und Farbe liegen bereit. Die Steinmetzin hat es sich zur Aufgabe gemacht, gemeinsam mit den Familien der Toten Grabsteine zu gestalten, bei denen jedes Detail individuell bedeutsam ist. Die Tochter ist nur ein halbes Jahr alt geworden. Die Mulde für den Plüschpinguin ist schon fertig; nun geht es darum, Platz für die Schnecke und das Wölkchen zu finden. Kreativität hilft, Wehmut zu lindern.

Bestattungsinstitut Ahorn-Grieneisen, Berlin. „Mut zu einer neuen Trauerkultur“ propagiert Rolf-Peter Lange, Sprecher des größten deutschen Bestattungskonzerns. Als Alternative zur „Fließbandabfertigung“ in Friedhofskapellen richtet das Unternehmen „Häuser der Begegnung“ für Trauerfeiern ohne Zeitdruck und Termindiktat ein. Ausgefallene Wünsche sind zumindest in Großstädten auch für Traditionsfirmen kein Tabu mehr – die letzte Ruhe im Taucheranzug, die Beisetzung mit Fackelzug oder Rockband.

Außenseiter unter den rund 3900 deutschen Bestattungsunternehmen garantieren noch mehr Extravaganz. Eine „Event-Bestatterin“ präsentiert Urnen in Erdbeerdesign oder mit Plüschbezug in Pink. Eine Künstlerin bemalt Särge mit Popkulturmotiven. Als Alternative zu Seebestattungen bieten Firmen neuerdings solche aus der Luft an. Nach dem Aufstieg mit dem Heißluftballon wird die Asche dicht über die Wipfel eines Waldes hinter der französischen Grenze verstreut. Die Firma Celestis in Hannover schickt Totenasche mit der NASA sogar in den Weltraum: In lippenstiftgroßen Hülsen werden einige Gramm in die letzte Raketenstufe eingebaut. Wenn alles gut geht, folgen ein paar Jahrzehnte in der Erdumlaufbahn.

Geschmacklos? Avantgardistisch? Einen Zweck erfüllen die neuen Formen: Sie holen den Tod zurück in die öffentliche Diskussion. Wie dringend geboten das ist, wissen diejenigen, die Trauernde betreuen. „Verhinderte Trauer behindert Leben“, sagt Pastor Wolfgang Teichert, Leiter der Evangelischen Akademie Nordelbien in Hamburg.

Teichert sieht es als „wichtige kulturelle Aufgabe der Gesellschaft“ an, „Trauer wieder zuzulassen“. Denn wer sich dem Abschiedsschmerz stellt und ihn durchlebt, gewinnt die Freiheit, wieder nach vorn zu schauen.

Der vielleicht eindrucksvollste Lehrer für diese Lektion lebt in Ber-gisch Gladbach: Fritz Roth, 54 Jahre alt, Bestatter. Vollbart, Figur wie Rezzo Schlauch, Katholik und Kirchenmitglied, ein rheinisch jovialer Provokateur mit philosophischer Neigung.

Berufskollegen wirft Roth vor, dass sie den Hinterbliebenen „die Toten stehlen“. Weil sie sich zu sehr um die „Innenausstattung“ der Särge kümmerten und Totenhemden, Rüschchen und Schleifchen anpriesen „wie Extras beim Autokauf“. Weil sie von allem abrieten, was heilsam sei, aber nicht in ihre Routine passe: Totenwäsche, Totenwache, Aufbahrung zum Abschied daheim. Weil sie damit Leid unnötig vergrößerten – denn letzte Liebesdienste für die Sterbenden und Toten, so Roths feste Überzeugung, entschieden mit über das Wohlergehen derer, die weiterleben.

Die Geschichte vom gelben Sarg zeugt von einem anderen Zugang, und Fritz Roth erzählt sie gern. Auf Krücken ist eine Frau, 58 und schwer krebskrank, mit ihren beiden erwachsenen Söhnen aus Leverkusen zu ihm gekommen, um ihre Beisetzung zu regeln. Bitte nicht ins Familiengrab, bitte Einäscherung mit großer Trauerfeier. Der Bestatter macht ihr einen ungewöhnlichen Vorschlag: „Nehmen Sie doch einen Sarg mit, und gestalten Sie ihn selbst!“

Mit einem „komischen Gefühl“ holen die Söhne „die Kiste“ am folgenden Tag ab. Kaufen Ökofarbe im Bastelladen. Und dann bemalen André und Ingo Nösse, ein 31-jähriger Betriebswirt und ein 29-jähriger Touristikmanager, nach Feierabend im Keller Quadratzentimeter für Quadratzentimeter den Sarg ihrer Mutter Gabriele: gelber Untergrund, grünes Gras, Blumen, Schmetterlinge, wie sie es sich wünscht.

Schwach ist sie inzwischen geworden, nur ein kleines Eckchen pinselt sie selbst mit. Und ihre Handfläche drückt sie in Weiß auf den Deckel. Zu den Abdrücken der Söhne, der Schwiegertöchter und den Fußstapfen der kleinen Enkelin. Drei Wochen nach dem ersten Besuch in Bergisch Gladbach kehrt Gabriele Nösse im Sarg zurück, in ihrem blauen Kostüm, mit der den Toten eigenen wächsernen Alabasterhaut.

Fünf Wochen später spricht ihr Sohn André freimütig darüber, wie schmerzhaft und wichtig der Prozess für alle war. Welche Überwindung der Gang zum Bestattungsinstitut gekostet hat – und wie sehr er ihre Mutter dann erleichtert habe, „fast so, als würde sie eine Art Vorfreude spüren“. Wie er und sein Bruder sich nun freuten, „wieder ins Leben zu treten und loszuleben“, ganz nach dem mütterlichen Rat: „Nutzt eure Zeit, nutzt dieses Leben!“

Vor seinem Karrierewechsel war Fritz Roth Betriebswirt und Unternehmensberater. 1983 übernahm der frühere Klosterschüler die Bestattungsfirma Pütz. In Deutschland und auf der griechischen Insel Ikaria besuchte er Kurse bei Jorgos Canacakis, dem Pionier der modernen Trauerbegleitung (siehe Seite 200). Und er kaufte 30000 Quadratmeter Wald samt einer leer stehenden Fabrikantenvilla, die er zur verwunschenen „Traueroase“ umbaute.

Schon draußen begrüßen den Besucher Objekte mit Hintersinn, von Künstlern und Trauergruppen gestaltet. Mitten zwischen Buchen ragt schräg eine Spiegelwand empor; Hineinblickende sehen sich in eine Welt hinter der Welt eintreten. Es gibt Teiche und Wasserfälle, ein Steinlabyrinth, eine Felsenspirale, das Unendlichkeitssymbol aus Birkenstämmen und Weidengeflecht.

700 Bestattungen für Kunden aus ganz Deutschland organisiert Roths Firma jährlich. Das Schlüsselthema heißt: sich Zeit nehmen für den Abschied. Bei Fritz Roth können die Lebenden mit ihren Toten zusammen sein, so lange sie wollen. Mitarbeiter bringen den offenen Sarg aus dem klimatisierten Leichenraum in einen Abschiedsraum mit Leuchtern, Polstersesseln und einer Musikanlage; morgen und übermorgen gern wieder. Eine Mutter blieb drei Wochen.

Ungelebte Zukunft betrauern, in stummer Zwiesprache unerledigte Geschäfte zum Abschluss bringen – ein Haus voller Gemälde, Skulpturen, Antiquitäten reizt zu eigenen Stilformen. Kinder legen toten Großeltern Bilder und Briefe in den Sarg; das Plüschtier darf auch mit hinein.

Die Malerin Michaela Frank tuschte an drei Abschieds-Nachmittagen auf Buntpapier 16 Porträts ihrer toten Mutter, die jetzt in Roths Bibliothek hängen. Auf den Anfangsbildern brechen sich Verwirrung, Wut und Rebellion Bahn; dicke schwarze Tupfer machen das Gesicht der Frau unkenntlich. In den späteren Skizzen lösen sich die Konturen auf; zuletzt deuten nur drei zarte Striche die Gesichtszüge an.

„Ich kann es nicht wissenschaftlich belegen“, sagt Roth, „aber eines scheint mir eindeutig: Das erste Bild signalisiert einen weniger gesunden Zustand als das letzte.“

Letzte Ruhe. Zeit für Grundsatzangelegenheiten. Warum gibt es überhaupt Trauer? Wie und warum konnte sie sich im Lauf der Evolution als universelles Grundgefühl entwickeln, nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Tieren, etwa Falken und Elefanten (siehe Seite 194)? Die Frage ist nicht trivial. Anders als zum Beispiel Angst erfüllt Trauer keinen überlebenswichtigen Zweck.

Im Gegenteil: Jammern und Wehklagen bringen Appetitverlust, Desinteresse, massives körperliches Unwohlsein mit sich. Das sind nicht gerade Faktoren, die individuelle Fitness oder sexuelle Attraktivität steigern – und damit die Weitergabe der eigenen Gene fördern. John Archer, Autor des Buchs „The Nature of Grief“, formuliert die Fragestellung so: „Warum hat die natürliche Selektion nicht statt trauernder Individuen solche bevorzugt, die den Tod fröhlich willkommen heißen?“

Die Antwort: Trauer gehört zu den „Kosten“ sozialer Bindungen. Denn würde die Abwesenheit von Verwandten oder Sexualpartnern nicht als Verlust empfunden, böte nicht nur der Tod, sondern schon jede kurzfristige Trennung Anlass für dauernde, kräftezehrende Neuordnungen in der Gruppe.

„Wenn soziale Beziehungen trotz Trennung andauern sollen“, schreibt Archer, „muss es Mechanismen geben, die Bindungen festigen, wenn der andere abwesend ist… Trauer ist ein Nebenprodukt dieser Mechanismen.“ Romantischer ausgedrückt: „Trauer ist der Preis, den wir dafür zahlen, Liebe zu empfinden.“

Im Fall von Homo sapiens steigert das Bewusstsein der Sterblichkeit sowohl Verlustangst wie Liebestalent. Eros und Thanatos, Liebe und Tod, bescheren die höchsten Wonnen, die tiefsten Abstürze. „Trauerarbeit“ hat Sigmund Freud den Prozess genannt, den Verlust einer geliebten Person zu verwinden. Der Begriff ist heute umstritten – Arbeit klingt nach einer Handlung, die sich aktiv vollziehen und steuern ließe. Tatsächlich erleben sich viele Trauernde als ausgeliefert.

Mit dem Abschied im Sinne von Fritz Roth kontrastiert das bittere Ende, wie es Evelyn Eichhorn erlebt hat, als ein „Stück Grausamkeit“: Sie sieht, wie Constanze nach siebenstündiger Operation in einem italienischen Krankenhaus stirbt; ein Teil von ihr stirbt mit, ein anderer regelt in gewohnter Tüchtigkeit Formalitäten: Überführung, Einäscherung, Begräbnis auf einem der schönsten Friedhöfe Berlins, auf dem eigentlich seit 20 Jahren keine Beisetzungen mehr stattfinden.

Bonjour, tristesse. Die Psychologin Verena Kast schreibt, der Tod eines geliebten Menschen lasse „uns irre werden an uns und an allem, was wir bisher für selbstverständlich gehalten haben“. Sie teilt den Trauerprozess in vier Phasen.

Anfangs: das Nicht-wahrhaben-Wollen; Empfindungslosigkeit und Starre. Phase 2: aufbrechende Emotionen aller Art; Wut, Angst, tiefe Niedergeschlagenheit, Suche nach Schuldigen. Anschließend: Suchen und Sich-Trennen; heftiges Fahnden nach dem Verstorbenen, innere Zwiegespräche. Schließlich: neuer Selbst- und Weltbezug.

Reale Trauer hält sich nicht an Modelle; die Phasen 1 bis 3 wirbeln häufig durcheinander, überlagern, wiederholen sich, peinigen den Leib mit Tinnitus, mit Hexenschuss oder Magenschmerz, mit Darmkrämpfen oder Herzweh. „Körperschmerz schützt vor Seelenschmerz“, erklärt Peter Findeisen, Leiter der Caduceus-Klinik für Psychosomatik in Bad Bevensen, die sich auf existenzielle Krisen spezialisiert hat. Mitunter merken Menschen erst nach Jahren, dass sie nach dem Tod ihrer Lieben „versteinerten“, um nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. Dennwennmanglücklichist,kriegtmaneinendrauf, dannliebergarnichtsspüren.

Bei anderen toben nachts die Geister – und ruinieren die Beziehung der Lebenden. Zuschauen zu müssen, wie fröhliche Menschen zusammenbrechen, überfordert die Umwelt regelmäßig.

Manche Freunde, Verwandte, Nachbarn, Kollegen vermeiden es dann, die Sprache auf den Tod zu bringen. Andere versuchen zu beschwichtigen oder aufzumuntern, um Grübelnde aus ihrer Endlosschleife im Irrealis – „hätte ich doch…, wenn doch nur…, könnte ich noch einmal…“ – zu reißen. Beides ist menschlich. Und falsch. Es gibt Phrasen, die Trauernde als Zumutung empfinden: DenkandieZukunft!Weinenhilftnicht!DubistnichtdieEinzige.FangeinneuesLebenan!

Professionelle Experten für das Seelenheil, Pfarrer und Psychologen, agieren häufig nicht minder unbeholfen. Sie glauben, sie müssten erklären, deuten, analysieren. Wird ihr Trost nicht schnell genug angenommen, bleibt die Diagnose „Anpassungsstörung“. Doch Trauernde brauchen keine Therapie. Sie brauchen Empathie, Einfühlung, Verständnis.

All das bringen am sensibelsten diejenigen auf, die das „irre werden“ durchlebt haben, jenes Gefühl, das Lessing in „Emilia Galotti“ beschrieben hat: „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren.“

Die „Blaue Gruppe“ trifft sich an jedem ersten und dritten Mittwoch des Monats. Auf dem Boden ist die Sternendecke ausgebreitet, darauf liegen DIN-A4-Farbkopien. Sie zeigen blauen Himmel mit einem von einem Flugzeug kühn gemalten Kondensstreifen in Form eines Herzens. Die Eltern haben Fotos aus glücklichen Tagen hineingeklebt.

Raffaele. Falko. Jennifer. Malte. Philipp. Sven Christian. Tapio. Timo. Tod durch Herz-OP. Verkehrsunfall. Verkehrsunfall. Sportunfall. Hirnblutung. Lungenembolie. Krankheit. Krankheit.

„Ich zünde ein Licht an für Jenni“, beginnt Jennifers Vater und gibt die Streichhölzer weiter in die Runde. Das Entzünden der Teelichte gehört zu den Ritualen von Familien mit verstorbenen Kindern. Die Urzelle der Bewegung stammt aus England, wo sich 1969 nach dem Tod zweier Jungen in Coventry die Eltern-Selbsthilfegruppe „The Compassionate Friends“ gründete. In Deutschland starteten die ersten Initiativen für trauernde Eltern 1984. Heute gibt es etwa 400 Gruppen bundesweit, 17 allein in Hamburg.

Die Kerzen brennen. Die Namen der Toten klingen nach. Anja Wiese, hauptamtliche Trauerbegleiterin im Verein, moderiert. Die blonde 55-Jährige ist mütterlich und resolut, einfühlsam und kritisch, humorvoll und ernst. Sie gerät nicht aus der Fassung, wenn eine Mutter sich ausmalt, wie sie dem Chefarzt, der ihren Sohn zu Tode operiert hat, mit seinem Skalpell die Haut abzieht.

Anja Wiese glaubt, „dass Trauernde Helden sind“, weil sie „ihre Untröstlichkeit und ihre Fragen aushalten“. Ihr Lieblingszitat stammt von Franz Kafka: „Wer die Fragen nicht beantwortet, hat die Prüfung bestanden.“ Verlustschmerz kennt sie aus eigener Erfahrung. Ihr Sohn Malte starb mit sieben Jahren an Leukämie.

Ein Stein in Herzform wandert in der Gruppe herum; wer ihn in der Hand hält, erzählt, was ihn beschäftigt. Die Eltern treffen sich seit einem Jahr; man duzt sich. Eine Atmosphäre ganz eigener Intensität ist entstanden. Alle sind daran gewöhnt, dass die Stimmung innerhalb von Sekunden kippen kann.

Eben war noch von Gertis Diät und von Kaijas Umschulung die Rede. Dann erzählt Alke, deren 19-jähriger Sohn im Jahr zuvor bei einem Marathonlauf tot zusammengebrochen ist, wie sie die Erinnerung einholt. Wenn sie einen Jogger sieht. Wenn sie fröhlichen Jungs im Abiturientenalter begegnet. Wie sich Wut und Ohnmacht in ihr aufbauen, als sie mit Freundinnen über Malte reden will und eine sofort das Gespräch abwürgt. „Totschweigen ist wie ein zweites Sterben“, sagt Anja Wiese.

„Ich will nicht mehr, dass du weinst, ich wein‘ auch nicht mehr“, hat der sechsjährige Silvio neulich seine Mutter ermahnt, die den Tod seines älteren Bruders einfach nicht verwinden kann. Am Mittwochabend darf sie weinen. Keiner muss hier den Kraftakt aufbringen, „anderen zuliebe normal zu sein“. Denn „zu viel“ Trauer gibt es ebensowenig wie „richtige“ oder „falsche“ Trauer.

Gemeinsam besuchen die Eltern nach und nach die Gräber all ihrer Kinder. Legen fremden vertrauten Toten Rosensträuße und blühende Artischocken, Astern und ein Nest mit Zierkürbissen aufs Grab. Halten sich an den Händen, während Anja Wiese ein Gebet spricht: „Zum Lieben und zum Lasten tragen / Zum Hoffen und zum anders sein / Erbitten wir an allen Tagen / Viel Kraft – gemeinsam und allein.“

In der Gemeinschaft keimt mit der Zeit, fast unmerklich, Zuversicht; wächst, was Trauerbegleiter „Seelentiefe“ nennen. Philipps Mutter wird bewusst, dass sie nicht mehr ausschließlich an den Verlust denken muss, sondern die 25 Jahre mit ihrem Sohn als Geschenk empfinden kann. Manchmal. Ihr Mann hat einen Kernsatz, der ihn trägt: „Solange ich lebe, lebt Philipp in mir.“

Das „große Loch“ erfülle ihn zugleich mit „großer Intensität“. Er sagt: „Ich bin mir selber näher gekommen. Ich will leben, aber nicht mehr wie bisher. Small talk? Nicht mehr mit mir!“ Sven Christians Mutter hat ihr Haus verkauft, löst sich von „110 Quadratmetern Einsamkeit“. Jennifers Eltern kündigen ein „Gruppenbaby“ an – nein, kein Ersatz für Jenni, um die sie weiter weinen werden, aber ein Schritt ins Leben.

Wie stark individuelle Trauer ist, wie sie sich entwickelt, wie, wann und ob sie sich zurückzieht, ob ihr Ausbleiben schädlich ist, ob Konfrontation oder Ablenkung den Schmerz besser lindern – für die Wissenschaft sind solche Fragen bis heute ungelöst. Die psychologische Trauerforschung arbeitet mit einer Unzahl von Fragebögen, Persönlichkeits-Screenings, strukturierten und freien Interviews, Tagebuchauswertungen, korreliert Herzfrequenz mit der Häufigkeit negativer Emotionen.

Doch die Befunde gehen über Allgemeinplätze häufig nicht hinaus. Fazit einer aktuellen, groß angelegten deutschen Untersuchung, für die 314 Betroffene einen 61-Punkte-Fragebogen ausfüllen: „Die Ergebnisanalysen unterstreichen die multidimensionale Natur des Konstrukts Trauer und zugleich die Individualität einer Trauerreaktion.“ Schlichter gesagt: Trauer ist vielschichtig, und keine gleicht der anderen.

John Archer hat für sein Buch mehrere hundert internationale Trauerstudien ausgewertet und konstatiert „bis zum heutigen Tag Verwirrung über die Natur der Trauer und die Wirkung verschiedener Bewältigungsstrategien“. Sogar darüber, ob zur gelungenen Trauerbewältigung die völlige Ablösung vom Objekt der Trauer gehört oder ob tiefe Bindung fortbestehen darf, sind die Gelehrten uneins.

Betroffenen hilft die theoretische Debatte wenig. Dass plötzliche und traumatische Todesfälle und der Tod eigener Kinder am allerschwersten zu verkraften sind, wissen sie besser als jeder Professor. Dass jenen der Neubeginn besser gelingt, die ihrer individuellen Erfahrung Deutung und Bedeutung abringen, klingt so richtig wie banal. Doch wie das glückt, steht in keinem Lehrbuch.

45 Frauen und neun Männer sind zum Wochenendseminar „Spiritualität und Trauer“ in die Evangelische Akademie Bad Segeberg angereist. Menschen, die den Geister-Terror kennen; andere, die im Hospiz, als Bestatter, als Trauerbegleiter mit Tod und Sterben zu tun haben; Interessierte, die erfahren wollen, was fremde Kulturen zum Thema lehren.

Kahl rasiert, mit Sandalen an den nackten Füßen, kultiviert Max Schupbach mönchische Aura. Der 57-jährige Psychologe, gebürtiger Schweizer, lebt und lehrt in den USA und ist weltweit gefragter Referent zum Thema. Sein Rat an Trauernde: „Glaube an all deine Erfahrungen, an deinen Schmerz, an dein Festhaltenwollen, an dein Loslassenwollen. Du musst den Weg nicht suchen; der Weg legt sich unter deine Füße.“

Das klingt lyrisch und kryptisch. Aber dann führt Schupbach vor, wie ein Prozess aussehen kann, in dem sich das Gefühls-Chaos ordnet und ein Stück des eigenen Weges offenbart.

Draußen brennt die Sonne. Drinnen vermittelt Schupbach ein wenig Zen-Buddhismus. Erläutert, dass die Welt und das Leben nach dessen Lehre ein „Koan“ darstellen, ein paradoxes Rätsel, rational nicht zu lösen. Lässt eine Partnerübung folgen: Man solle doch bitte paarweise, zwischen 15 und 18 Uhr, eine Antwort auf das schwierigste ungelöste Problem im eigenen Leben finden!

Eine Teilnehmerin meldet sich, um die Übungsschritte mit Max Schupbach zu demonstrieren. Beklommene Stille tritt ein, als die schmächtige Frau vor der großen Gruppe stockend ihre Geschichte erzählt. Ihr 26-jähriger Sohn hat sich vor einen Zug gestürzt. Keine Vorwarnung. Kein Abschiedsbrief. Nur, fast wie zum Hohn, ein Plan der Brücke und der Zugfahrplan. Und nun seit fast zwei Jahren der Kloß, der ihr die Kehle zudrückt, und die Fragen: „Warum konnte ich ihn nicht halten? Warum hat meine Liebe nicht ausgereicht?“

Im Zwiegespräch über die Biografie des Jungen schält sich das Bild eines hoch intelligenten, hoch sensiblen Außenseiters heraus, der seit Kindergartentagen zu kämpfen hatte, sich nicht verbiegen ließ, es sich und anderen schwer machte, unerschrocken, mit eigenem Kopf, auf sich selbst bezogen.

Schupbach schlägt vor, den Suizid als Fortsetzung dieses Lebensstils zu interpretieren: „Dein Sohn hat gesagt: Ich lebe, wie es für mich richtig ist. Also auch: so lange, wie es für mich richtig ist.“ Die Mutter schaut ins Leere, nickt zögernd.

Der Psychologe bittet sie aufzuste-hen, sich hineinzuspüren in ihre körperlichen Reaktionen. Und nach einer Weile ballt die kleine, zarte Frau die Faust, stampft mit dem Fuß auf. Erzählt von ihrer Wut, wenn junge Leute ihr auf dem Trottoir entgegenkommen und wie selbstverständlich erwarten, dass sie diejenige ist, die ihnen ausweicht. Erwähnt mit gewissem Stolz, dass sie manchmal einen Zusammenstoß riskiert. Begreift vor den Augen von 53 Zuschauern überrascht, dass sie vielleicht nicht nur ein Häufchen Elend ist, dass das Stampfen und die Wut zu ihrem Weg gehören, sich von dem toten Sohn zu lösen und ihn zu bewahren.

Paarweise üben nun die anderen Workshop-Teilnehmer mit ihren eigenen Themen die Kombination aus Frage-Antwort, Erkenntnisblitzen, Körpereinsatz. Und tatsächlich: Noch vor dem Abendessen lässt sich erstaunlich viel er-, be- und verarbeiten. Einige formulieren die Antwort auf ihr persönliches Problem nach Art eines japanischen Haiku. Eine Frau trägt vor: „Liebster Sohn ist fort / trotz der Trauer glücklich sein / das funktioniert.“

„Prozessorientierte Psychologie“ heißt der Ansatz, nach dem Max Schupbach arbeitet. Trauer empfindet er „auch als Fortbildung – ein Teil Schmerz, ein Teil Selbsterfahrung, ein Teil Auseinandersetzung mit Konzepten“.

Die Kulturen der Welt bieten Trauernden unterschiedliche Hilfestellungen. Schupbach erzählt von den australischen Aborigines. Die betrachteten das Leben als Bühne, die nur zum Teil ausgeleuchtet sei. Es gebe Parallelwelten, die der Scheinwerfer nicht erfasse, die aber genauso real seien. Die „Feinspür-Ebene“, in der Träume, Ahnungen, Visionen regierten, stehe gleichgewichtig neben der „Konsensus-Ebene“, der Alltagsrealität, die Menschen im Westen als einzige Wirklichkeit gelten ließen.

Viele in der Runde merken auf. O ja, sie kennen wundersame Erlebnisse, die sie „draußen“ niemandem anvertrauen: die Erfahrung etwa, dass ihre Toten ihnen Zeichen geben. Oder sie besuchen, nicht nur als quälende Geister und nebulöse Traumgestalten, sondern höchst real: auf der Straße, im Wohnzimmer beim Bügeln. Evelyn Eichhorn, die für dieses Seminar zum ersten Mal seit der Beerdigung ihrer Tochter Berlin verlassen hat, erzählt, wie ihr Constanze „in all ihrer Leichtigkeit“ manchmal auf dem Friedhof entgegenspaziert.

Es erleichtert, solche Erfahrungen nicht als bösen Spuk, sondern als Hilfe begreifen zu dürfen. Max Schupbach variiert Übungen, mit denen sich Macht über die Geister zurückgewinnen lässt. Die Teilnehmer erinnern sich an typische Gesten oder Worte ihrer Toten, imitieren sie. Bei Evelyn Eichhorn ist es eine lockere Handbewegung nach vorn, mit der Constanze ihr zu verstehen gibt, den „Bleimantel“ abzulegen, der sie umfängt. „Mama, mach! Geh nach außen!“

„Auf alle Menschen wartet gleicher Tod / Und keinen gibt es, der an diesem Tag / Schon weiß, ob er den nächsten noch erlebt.“ So heißt es beim griechischen Dramatiker Euripides. Wie könnte eine moderne Gesellschaft aussehen, die mit dieser Einsicht umzugehen weiß? In der die Lebenden sich mit den Toten versöhnen und Trauer Resonanz in der Öffentlichkeit findet?

2400 Jahre nach Euripides‘ Ableben gibt es zukunftsweisende Vorbilder: im Internet. Bei Kindern. In den Niederlanden.

Webseite www.leben-ohne-dich.de, Beitrag 1658. „In den letzten Tagen ging es mir recht gut, doch heute bin ich wieder total am Boden“, schreibt Kerstin, 18, auf einer der „Geschwisterseiten“ des Internetforums. Ihre Mutter sei „förmlich ausgerastet“, als sie Kerstin im leeren Zimmer der kurz zuvor an Leukämie gestorbenen kleinen Schwester angetroffen habe. Dort las die lebende Schwester der toten bei Kerzenschein am offenen Fenster aus einem „Harry Potter“-Buch vor, „in der Hoffnung, dass sie auf einer Wolke sitzt und mir zuhört“. Die Mutter riss ihrer Tochter das Buch aus den Händen und zerrte sie aus dem Zimmer.

Im Netz finden Trauernde Resonanz. Innerhalb von 20 Stunden treffen fünf liebevolle Trost-Mails für die 18-Jährige ein. Die Jugendlichen berichten von eigenen Vorleseritualen, raten, das Gespräch mit der Mutter zu suchen. In Beitrag 1667 antwortet Kerstin, berichtet, dass ihre Mutter ihr Ritual in Zukunft dulden werde, auch wenn sie es nicht verstehe.

Wer www.virtual-memorials.com anklickt, dem kommt ein Verstorbener nah, sehr viel näher als auf ein paar Quadratzentimetern Todesanzeige. Dokumente eines Lebens ziehen am Bildschirm vorüber – Bilder aus der Kindheit, von der Hochzeit. Die Reise in die Schweiz. Arbeit und Hobbys.

Die Lieblingsmusik ertönt. Gedanken und Gedichte von Freunden zum Tod erscheinen. Ein Gästebuch steht bereit.

Die digitale Annäherung an fremde Tote ist intim und doch diskret. Hans Geser, Ordinarius für Soziologie an der Universität Zürich, sieht in Web-Memorials die „Embryonalform einer durchaus evolutions- und verbreitungsfähigen neuen Todeskultur“. Für die Hinterbliebenen erleichtere die Arbeit an der virtuellen Verewigung den Trauerprozess. Von Zufallsgästen erführen sie anschließend oft anrührenden Trost und Zuspruch.

Den Tod auch ohne solche Hilfen als Teil des Lebens zu akzeptieren, scheint denen am leichtesten zu fallen, die noch am Anfang stehen. Kinder sind Naturtalente im Umgang mit Geistern – wenn man sie nur lässt. Auf ihren Bildern leben die Toten weiter, schwarz oder bunt, mit Strahlenkranz, als Engel, als Schmetterling, als Stern. „Werft eure Blumen jetzt runter zum Opa. Gebt sie dem Opa, der ist tot!“, weist ein Dreijähriger die zögernden Trauergäste auf einer von Fritz Roth in Bergisch Gladbach organisierten Beerdigung an. „Wenn wir sterben, bleibt die Schale auf der Erde liegen. Der Rest verreist“, philosophiert der sechsjährige Lars im Buch „Rituale in der Trauer“

In Ahrensburg bei Hamburg hat Ulrike Drechsler Kinder zur Mitgestaltung des Friedhofs eingeladen, dessen stellvertretende Leiterin sie ist. Ihre Vision war ein neues Grabfeld für die Winzigsten, ein lichter Ort, wo Eltern und Geschwister tot geborene Kinder und im Mutterleib Gestorbene betrauern können.

Eltern und Erzieher waren zunächst gar nicht begeistert vom Vorhaben der Friedhofsfrau; doch Ulrike Drechsler gelang es, die Ängste zu zerstreuen. Im Kindergarten las sie das Bilderbuch „Was ist das? fragt der Frosch“ vor, in dem Frosch, Gans, Hase und Schweinchen eine tote Amsel finden und sie beerdigen.

Dann lud sie die Fünf- und Sechsjährigen ein, den Friedhof zu inspizieren. Die monierten, was fehlte:eine Schaukel, eine Picknick-Bank, etwas zu essen, ein Kummerkasten, um Botschaften, Wünsche und Gedanken für die Geister zu hinterlegen. Schließlich bepflanzten die Kinder mit Hingabe ein Blumenbeet für das neue Areal. Inzwischen stehen dort Picknick-Bank und Schaukel; langfristig ist für Essen gesorgt – auf die Wiese hinter das Grabfeld sind Obstbäume gepflanzt worden.

„Marmorwüsten“ – wie Fritz Roth die heutigen Friedhöfe nennt – so umzugestalten, widerspricht vielerorts den Friedhofssatzungen. Bildersindverboten. Steineüber0,90msindhiernichterlaubt.Dekorationwirdabgeräumt. Die Regulierungswut hat Nebenwirkungen. „Je mehr Verbote, desto weniger kommen die Leute mit ihrer Trauer voran“, sagt Ulrike Drechsler.

Wie es anders geht, zeigt jenes Land, das Beisetzung liebevoll-praktisch „Uitvaartverzorging“ nennt, Hilfe bei der „Ausfahrt“. In den Niederlanden herrscht kein Friedhofszwang. Und wer will, kann die Asche seiner Lieben im „Stroj koker“, der Papprollen-Urne zum Selbstausstreuen, mit nach Hause nehmen und im eigenen Garten verteilen. Im Krematorium Slangenburg, nur 20 Kilometer hinter der deutschen Grenze, tun das sieben Prozent der Kunden. Unter ihnen sind nicht wenige Deutsche, die dann die Urne über die Grenze zurückschmuggeln – was illegal ist, aber nicht strafbewehrt. Andere füllen ein paar Gramm Asche in ein Medaillon und lassen den Rest anonym verstreuen.

Für Kinder liegt die Broschüre „Is mamma nu een engel?“ aus, ein Ratgeber zum Umgang mit dem Tod, den Krematoriumsleiter Gert Brinkhorst konzipiert hat. Illustriert haben ihn zehnjährige Schüler. Auf den Gräbern draußen hat die mit Steinen beschwerte Baseballkappe genauso ihren Platz wie die Putte in Gold, der Porzellan-Delfin auf rotem Marmor, das in Granit eingelassene Skatblatt.

Was bleibt? Eine Holzeisenbahn. Ein Porträtfoto. Ein Kreuz. Ein Keramikboot mit Angler. Ein Liebesbekenntnis: „Te quiero mucho.“ Im übrigen verkünden die Gräber in Slangenburg die gleiche Botschaft wie jedes Grab an jedem Ort: „Auf alle Menschen wartet gleicher Tod…“ In einem Friedhof voller lebendiger Erinnerungen scheint es ein wenig leichter, diese Wahrheit zu ertragen.

Copyright GEO/Gruner & Jahr, Hamburg, 2003