Von Sabine Vincenz
Schwäche erlaubt. Martina H. hat durch den Tod ihres Sohnes gelernt, dass sie nicht immer funktionieren muss. „Ich darf mir Gefühle wie Schwäche und Trauer erlauben…“
„Es war ein Schock, als ein Arzt mir sagte, dass mein Sohn Yannis nur noch drei Jahre zu leben hätte. Die Diagnose: eine Gehirnentzündung, hervorgerufen durch Masernviren. Yannis starb am 26. Juli 2000. Zu Hause; in meinen Armen. Er wurde nur sieben Jahr alt…
Als er noch lebte, habe ich funktioniert. Wollte für ihn da sein. Mit seinem Tod brach ich zusammen. Da war dann nur noch der Verlust. Aber für meine beiden anderen Kinder musste ich weitermachen. Als Alleinerziehende hatte ich niemanden, der mir den Alltag abnehmen konnte.
Ich lasse körperliche und seelische Schwächeanfälle zu.
Ich wollte weiter alles schaffen. Aber ich spürte, dass ich es nicht konnte. Noch heute gehe ich nicht auf den Friedhof. Im ersten halben Jahr habe ich versucht, aber es ging mir dann immer schlecht. Es bringt mir nichts, vor seinem Grab zu stehen und mit den Blumen zu sprechen. Yannis ist sowieso immer bei mir. Aber die Entscheidung, nicht mehr dorthin zu gehen, hat mich große Überwindung gekostet. Das war wie ein Gemisch aus Ohnmacht, Trauer und schlechtem Gewissen. Ich wollte zu meinen Gefühlen stehen.
Es gibt auch heute Tage, da bin ich schon morgens so kaputt, dass ich nicht mal im Keller die Waschmaschine anstellen kann. Früher hätte ich mich aufgerafft, um für meine Familie zu funktionieren. Heute gehe ich mit den Kindern eben zu McDonald’s, wenn ich es nicht geschafft habe zu kochen. Oder ich ziehe mich in mein eigenes Zimmer zurück, das ich mir nach Yannis‘ Tod eingerichtet habe. Manchmal tauche ich auch für ein Wochenende ab. Meistens gemeinsam mit einer Freundin, die ebenfalls ihr Kind verloren hat.
Viele verwaiste Mütter halten sich an bestimmten Tagen fest. Todestag, Geburtstag, Weihnachten, Silvester – das sind für viele Eltern schlimme Tage. Das wollte ich nicht. Deshalb habe ich an Yannis‘ Geburtstag, dem 16. Oktober, meinen zweiten Mann geheiratet. Mir war es wichtig, diesen einst glücklichen Tag in meinem Leben wieder positiv zu besetzen.
Bei mir kommt die Trauer eher spontan. Wenn ich zum Beispiel an der Wohnung von Yannis‘ Kindergartenfreund vorbeifahre oder wenn ich die Praxis seiner Therapeutin betrete – dann kommt es vor, dass ich weinen muss. Aber ich finde das okay.
Mir tut es gut, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Ich will sie nicht unterdrücken, nur weil sie nicht in den Alltag der gesunden, glücklichen Menschen hineinpassen. Allerdings weine und trauere ich am liebsten allein. Denn: In der Trauer gibt es kein Richtig oder Falsch. Da gibt es nur Gefühle. Und die müssen raus.“
Psychologin Karin Borowski (48) zu Martinas Bewältigungs-Strategie:
„Eine ‚gesunde‘ Trauerarbeit bedeutet: die eigenen Empfindungen ernst zu nehmen. Sich beispielsweise zu sagen: ‚Ich darf mich heute ruhig kaputt fühlen und muss nicht jeden Tag ein perfektes Mittagessen für die Kinder kochen.‘ Das macht Martina sehr gut.
Sich von Gefühlen leiten zu lassen, bedeutet auch: auf sich selbst hören. Jeder hat sein eigenes ‚Tempo‘. Das muss man akzeptieren.
Mit dieser offenen Art, ihre Gefühle zu leben, ist Martina auch ihren Kindern ein gutes Vorbild. So erleben die Kinder den Umgang mit Gefühlen. Sie lernen ’nebenbei‘, dass auf Trauer und Schmerz auch Erlösung und Freude folgen können. Fazit: Was ich zulassen kann, erschreckt mich nicht so. Ich muss es nicht bekämpfen und bekomme Kräfte frei für neue Wege.“