Wenn das Kind sterben muss: Selbsthilfegruppe für Eltern gibt der Trauer eine Stimme. Von Annika Fischer, WAZ Mülheim
Jedes Jahr sterben in Deutschland über fünftausend Kinder unter 16 Jahren, fast zwei Drittel davon noch vor ihrem ersten Geburtstag. Sie finden früh den Tod – und werden danach häufig totgeschwiegen. Eine Selbsthilfegruppe in Mülheim gibt der Trauer ihre Sprache zurück.
Geteiltes Leid ist sicher kein halbes Leid, aber gemeinsames Trauern hilft, den Schmerz besser zu ertragen. Viele Ehen halten den Verlust eines Kindes nicht aus.
WAZ-Bilder: J. Studnar
Fabienne wurde nur sechs Tage alt. Ihr Herz war krank und zu schwach um zu kämpfen. Von der Welt sah das Kind nur drei Krankenhäuser – und die Welt sah den neuen kleinen Menschen gar nicht. Deshalb ist es, als hätte es Fabienne nie gegeben. Deshalb gibt es viele, die den Schmerz der Eltern nicht verstehen. Deshalb sagen sie zu Silvia R. Sätze wie „Du bist doch noch jung. Du kannst ja weitere Kinder kriegen.“
In der Gruppe würde das niemand auch nur denken. Auch nicht das hier: „Du hast doch noch andere Kinder.“ Denn bei „Leben ohne Dich“ weiß jeder, wie es sich anfühlt, wenn ein Kind gehen muss. Wenn es langsam stirbt wie Yannis, der mit sieben gegen eine Gehirnentzündung verlor. Wenn es durch einen Unfall aus dem Leben gerissen wird wie Jasmin, die 14 war. Wenn es gar nicht erst leben darf wie Noah. Wenn es eben noch fröhlich war und dann dem plötzlichen Kindstod zum Opfer fällt wie Nils. Sogar, wenn es ermordet wird.
Sie haben über all das schon Stunde um Stunde geredet in der Selbsthilfegruppe – denn sie haben es erlebt. Silvia R. ist froh, dass sie endlich sprechen kann. Mancher ging ihr aus dem Weg in letzter Zeit, „Freunde hören zwar zu, aber sie helfen nicht.“
Das musste auch Martina H. erfahren, als ihr Yannis starb: „Da kam keiner und hat mich gerettet.“ Zu groß ist die Hilflosigkeit der anderen, zu unüberwindlich das Tabu. Vielleicht ist das der Unterschied: Bei der Erinnerung an einen verstorbenen alten Menschen darf manchmal gelacht werden, bei toten Kindern gibt es nichts zu lachen.
„Raum für die Trauer der Eltern“ vermisst die Pastorin Irene Preuß, die den Gesprächskreis seit seiner Gründung im letzten Jahr betreut. Die da kommen und ihr Herz ausschütten, werden immer mehr. Und sie kommen von überall her. Aus dem Ruhrgebiet, aus ganz Nordrhein-Westfalen, neulich sogar aus Schweden. Das Sterbealter der Kinder spielt für die Gruppe keine Rolle: Auch ein Mensch, der mit 36 stirbt, sei seinen Eltern noch immer ein Kind gewesen. „Jeder hatte eine Mama, die nun trauert“, sagt Martina H.. Ihr ist es Therapie, Betroffene zu trösten.
Auf ihrer Pinwand im Internet erzählen fremde Trauernde ihre Geschichte und die ihrer Kinder, sie stellen Bilder ins Netz und Gedichte unter die Lebensdaten. Die Tränen, die das Unbeteiligten in die Augen treibt, lässt den Schmerz der Eltern ahnen. „Der Verlust eines Kindes ist das Schlimmste, was einem passieren kann“, glaubt Martina H.. Und oft ist da noch nicht einmal ein Leben, an das die Hinterbliebenen sich erinnern können: „Meine älteste ist tot“, sagt Silvia R., und was auch passiert: „Sie wird immer älter sein als jedes Kind, das vielleicht nachkommt.“
Wenig Raum zum Trauern gibt die Gesellschaft den Familien verstorbener Kinder – oft aus Hilflosigkeit heraus wird lieber geschwiegen.
Martina H. empfindet ähnlich. „Ich habe drei Kinder, aber nur zwei wohnen bei mir“, hat sie sich angewöhnt zu sagen. Was, nebenbei, die Menschen dazu zwingt nachzufragen – und der Mutter erlaubt zu reden. So lebt das tote Kind mit in dem Gedanken: Jetzt könnte es laufen, jetzt käme es in die Schule, jetzt wäre es so und so alt. Wie sollen Eltern da „endlich wieder normal werden“, wie die Umwelt es so gern fordert? „Ich bin normal, ich bin nur anders geworden“, sagt Beate B., Mutter von Noah.
Auch Silvia und Bernd R. haben sieben Monate nach dem kurzen Leben ihrer Tochter den Weg in das, was andere „Normalität“ nennen, noch nicht wiedergefunden. Zwar ist der Mutterschutz lange vorbei, in dem die 32-Jährige von Gesetzes wegen Mutter war, ohne ein Kind zu haben. Doch liegen Tränen schwer auf ihrer Stimme, wenn sie erzählt von ihrer Tochter und ihre Finger krampfen sich um die ihres Mannes. Die Treffen mit „Leben ohne Dich“ haben ihr Wege gezeigt, selbst zu leben, auch wenn ihr Kind das nicht durfte. Nicht alle Mütter schaffen das. Silvia R. aber ist entschlossen weiterzumachen – für Fabienne. „Unsere Tochter lebt. Sie würde erst sterben, wenn wir nicht mehr an sie denken.“
Am Karfreitag, 29. März 2002, feiert „Leben ohne Dich“ um 18 Uhr einen ökumenischen Gedenkgottesdienst in der Kreuzkirche Mülheim, August-Schmidt-Straße 17. Eingeladen sind besonders Familien, die ein Kind verloren haben.